12.

Sosehr ich mich auch dagegen sträubte – mein Verleger drängte gebieterisch darauf, mich mit dem Neuruppiner Denkmals-Fontane ablichten zu lassen, um mit diesem Hochglanzfoto das Hinterteil unseres Buches angemessen zu schmücken. Fluchend fügte ich mich diesem Wunsche. Nicht nur wegen des zeitaufwendigen Ausflugs hinauf zum Rhin, sondern vor allem wegen der zu erwartenden negativen Sanktionen des Dichters hoch oben auf seinem Sockel. Und die kamen denn auch. Kaum hatte mich der mitgereiste Profi-Fotograf (…) in die gewünschte Positur gerückt, hörte ich Fontane auch schon schimpfen.

»Sie wagen es erneut, mir unter die Augen zu treten? Haben Ihnen meine Warnschüsse vom Mai noch nicht gereicht?«

Ich schielte auf seinen Stock, ob der sich nicht wieder in ein Gewehr verwandelte. »Sie kennen den Inhalt meines Manuskripts?«

»Das ist es ja: Hundert Nadelstiche regen mehr auf als ein Kolbenstoß. Kann Sie denn nichts mehr daran hindern, dieses Machwerk auch noch drucken zu lassen? (…) Dies alles diskriminiert mich doch letztendlich über alle Maßen!«

»Nein und abermals nein!«, rief ich da. »Sie als eigentlichen Vater des deutschen Krimis zu feiern war doch meine Absicht, nichts anderes. Und Sie wissen doch, wie das bei solchen Sachen ist: Ohne ein gewisses Quantum von ›Mumpitz‹ geht es nicht.« Wieder setzte ich darauf, ihn milde zu stimmen, indem ich seine eigenen Worte in meine Rede einflocht.

Aber Fontane ließ sich diesmal nicht so leicht besänftigen.

(Horst Bosetzky, ›Mord und Totschlag bei Fontane‹)

 

 

Das Gutachten der Gerichtsmediziner ließ keinerlei Zweifel daran, dass Angela Wiederschein Selbstmord begangen hatte. Eine Unmenge an Tabletten hatte sie geschluckt und sich zudem die Pulsadern aufgeschnitten. Auch ihr Abschiedsbrief hätte nicht klarer sein können …

 

›Hiermit gestehe ich, an der Ermordung von Siegfried Schulz beteiligt gewesen zu sein. Mein Mann, Rainer Wiederschein, hat ihn mit einem Sofakissen erstickt und später unter der Garage des Nachbargrundstücks vergraben, während ich in seinen Sachen in den Porsche gestiegen und weggefahren bin. Es hat mich von Anfang an bedrückt, dass ich so viel Schuld auf mich geladen habe. Das betrifft nicht nur Schulz, sondern auch den armen Klütz, der so lange unschuldig im Gefängnis gesessen hat. Mit dieser Schuld konnte ich nicht leben, aber mir fehlte auch die Kraft, reinen Tisch zu machen und Rainer und mich anzuzeigen. So bin ich nach Indien geflüchtet, habe aber auch dort meinen inneren Frieden nicht gefunden. Es gibt keine Erlösung für mich. Ich bitte alle diejenigen, denen ich Schaden zugefügt habe, um Vergebung. Es gibt keinen anderen Weg für mich. Der HERR vergebe mir! Angela W.‹

 

Orlando hatte ›Unterm Birnbaum‹ aufgeschlagen, um nach Parallelen bei Fontane zu suchen. »Bei ihm geht die Ursel Hradschek ja auch an ihrer schweren Schuld zugrunde und stirbt an Auszehrung und Nervenschwindsucht. Ein Selbstmord wäre aber auch da konsequenter gewesen.«

»Ich bin kein Dichter«, sagte Mannhardt. »Und Besinnungsaufsätze habe ich immer gehasst. Richte nicht, auf dass du nicht gerichtet wirst.«

»Bleibt noch Wiederschein«, sagte Orlando.

Mannhardt stöhnte. »Schneeganß ist total am Boden zerstört, dass er sich abgesetzt hat, ohne dass wir’s verhindern konnten.«

»Dass Wiederschein der Mörder ist, daran kann ja nun kein Zweifel mehr bestehen«, sagte Orlando. »Er wird geahnt haben, dass seine Frau in ihrem Abschiedsbrief alles zugegeben hat.«

Mannhardt nickte. »Hundertprozentig. Damit ist Klütz ein für alle Mal exkulpiert.«

 

*

 

Klütz’ Zelle stand offen, und Margrit Minder-Cerkez brauchte nicht extra einen Schließer anzufordern, um ihn sprechen zu können. Sie nahm keine Rücksicht mehr darauf, dass ihr dies im Dienst strikt untersagt war, und umarmte ihn lange.

»Du bist ja theoretisch schon ein freier Mann, aber ehe die juristischen Mühlen mit dem Mahlen fertig sind und du ganz formal entlassen wirst, werden wohl noch ein paar Tage vergehen.«

»Dann feiern wir meine Wiedergeburt …«

»Und meine auch.« Sie hatte die Scheidung eingereicht. »Wenn ich so bedenke, wie wir zueinandergefunden haben. Da könnte ich fast wieder in die Kirche eintreten: Die Wege des Herrn … Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!«

»Ich werde jetzt meinen Trainerschein machen und mich langsam hocharbeiten. In zehn Jahren bin ich mit meinem Verein in der ersten Bundesliga!«

 

*

 

Rainer Wiederschein war bereits seit drei Tagen auf der Flucht. Nur gut, dass es Sommer war, da konnte er ohne Probleme im Wald übernachten, aber auch in leer stehenden Lauben und Zelten, die nur am Wochenende benutzt wurden. Eine Großfahndung wie beim Ausbruch eines gefährlichen Serientäters war in seinem Falle nicht ausgelöst worden. Was sollte er noch groß anstellen?

»Eine schöne Scheiße!« Wiederschein fluchte pausenlos vor sich hin. Natürlich hätte er von vornherein wissen müssen, dass Angela mit dem Druck nicht fertig werden würde. Hatte er aber nicht, und so war er heilfroh gewesen, dass sie sich nach Indien abgesetzt hatte. Leider ja vergebens. Und dann auch noch dieser symbolische Akt, sich ausgerechnet im Keller der Frohnauer Villa umzubringen! Klar, als Schauspielerin konnte man nicht anders, als theatralisch zu sein. Und mit ihrem Abschiedsbrief hatte sie ihm 15 Jahre Knast verschaffen wollen, wenn nicht gar lebenslänglich. Ihre späte Rache, weil er ihr Leben verpfuscht hatte. »Diese blöde Kuh mit ihrer scheiß Reue!« Dafür, dass sie dieses Schwein von Schulz aus der Welt geschafft hatten, hätten sie das Bundesverdienstkreuz kriegen müssen! Dass das irgendwie verwerflich sein sollte, konnte er beim besten Willen nicht erkennen.

Von Frohnau aus war er auf einem gestohlenen Fahrrad Richtung Birkenwerder geflüchtet und hatte sich zunächst in den Wäldern des Briesetals versteckt, bis er weiter Richtung Osten gezogen war. Ein erster Plan war schnell gefasst: irgendwie über Polen und Weißrussland in den Wilden Osten, um dort unterzutauchen. In Kasachstan oder Aserbaidschan würde ihn so schnell keiner finden. Dann konnte man immer noch weitersehen. Er war ein erfahrener Globetrotter. Aber erst einmal musste er durch das deutsch-polnische Grenzgebiet hindurch, und dort fuhren viele Streifen umher, seit Polen ein Schengenland war und man an der Oder-Neiße-Grenze nicht mehr kontrolliert wurde. Das Beste war, sich Zeit zu lassen.

Wen er hasste, war aber nicht Angela, das war Mannhardt. »Dieses verdammte Arschloch!« Wenn der die Sache mit Klütz nicht wieder aufgerührt hätte, dann … »Ich knall das Schwein ab, wenn ich es noch mal sehen sollte«, schwor sich Wiederschein. Eine Pistole konnte er sich schnell beschaffen. Ein bisschen Geld hatte er bei sich.

Schlecht war es auch nicht, wenn er sich irgendwo einen Wagen klaute, um ein bisschen schneller an der Oder zu sein.

 

*

 

Mannhardt und sein Enkel saßen bei Freddie und Gudrun im Biergarten und warteten auf Wiederschein. Dichtes Gebüsch verhinderte, dass man sie von der Straße aus erkennen konnte.

»Links haben wir einen Kirsch- und rechts einen Birnbaum«, sagte Orlando. »Was soll da noch schiefgehen?«

Mannhardt stimmte ihm zu. »Nichts, denn Fontane führt ja Regie. In Letschin gleich Tschechin schließt sich der Kreis. Wiederschein wird hier auftauchen und zusehen, dass er bei Freddie und Gudrun so lange bleiben kann, bis es weniger gefährlich ist, nach Polen zu gehen.«

Als sei das nicht selbstironisch genug gewesen, fügte Orlando hinzu, dass Wiederschein gar nichts weiter übrig bliebe, als diesen Schritt zu tun, denn schließlich sei Szulski Pole gewesen.

Mannhardt nahm den Roman, den sein Enkel mitgebracht hatte, und blätterte so lange darin, bis er im Nachwort von Helmuth Nürnberger die gesuchte Passage gefunden hatte, in der von Fontanes Prädestinationsgläubigkeit die Rede war: »In ähnlicher Weise wie in ›Ellernklipp‹, wo der Täter an eben der Stelle den Tod findet, wo er den Sohnesmord verübte, und wie in ›Quitt‹, wo Mehnert Lenz (der fast mehr in Notwehr als in verbrecherischer Absicht gehandelt hat) auf dieselbe Weise stirbt wie sein Opfer, ereilt Hradschek sein Schicksal dort, wo er den Ermordeten vergraben hat: Das Gesetz erfüllt sich mit einer Folgerichtigkeit, die kein Ausweichen erlaubt.«

»Ach, Opa!«, rief Orlando mit liebevollem Spott. »Dann hätte es sich doch in Frohnau erfüllen müssen, aber da lag seine Frau tot im Keller und nicht er.«

»Ja, darum wird es auch der Keller hier in Kienitz sein.«

»Da kannst du lange warten.«

»Und wenn! Wir übernachten hier.«

Aber auch die Nacht über passierte nichts, und als sie morgens am Frühstückstisch saßen, waren sie todmüde, denn Freddie und Gudrun trauten sie nicht recht, und so hatte immer einer von ihnen Wache gehalten.

»Ganz schön albern«, sagte Orlando und köpfte sein weich gekochtes Ei.

»Mit fremden Augen gesehen sind alle Hobbys albern«, wandte Mannhardt ein.

»Lass uns nach Hause fahren«, sagte Orlando. »Der Zweck deiner Intervention ist doch erreicht: Klütz ist gerettet. Wiederschein zu jagen, ist Sache deiner Kollegen, die noch nicht a. D. sind.«

Auf dieses Stichwort schien Gunnar Schneeganß nur gewartet zu haben, denn als Mannhardts Handy dudelte, war es nicht Heike, sondern der Kollege aus der Keithstraße in Berlin.

»Wo steckst du denn gerade?«, fragte Schneeganß.

»Hier in Kienitz an der Oder.«

»Und dann hast du es nicht klatschen gehört?«

Mannhardt konnte Schneeganß nicht folgen. »Wer soll hier geklatscht haben? Hier ist kein Theater, und Platzeck ist auch nicht dabei, mit seinem Kaugummi den Deich abzudichten und die Dörfer zu retten.« Das bezog sich auf den brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck, der sich im Sommer 1997 bei der Bekämpfung des Oderhochwassers große Verdienste erworben hatte.

Schneeganß rang die Hände. »Mensch, hast du nicht gehört, wie Wiederschein mit seinem Fluchtauto ins Wasser geklatscht ist!«

Mannhardt konnte es nicht fassen. »Wie, hier in Kienitz?«

»Nein, aber nahebei, Güstebieser Loose. Die Brandenburger hätten ihn fast gehabt, aber nun ist er wieder auf und davon. Möglicherweise in der Oder ertrunken.«

»Nein, bestimmt nicht, Szulski ist ja auch nicht in der Oder ertrunken.«

»Ja. Tschüss dann! Und haltet mal die Augen offen.«

Das machten sie, aber sie bekamen Rainer Wiederschein weder an diesem noch an den nächsten Tagen zu sehen. Was blieb ihnen übrig, als wieder nach Berlin zurückzukehren und die Sache zu vergessen.

Erst als es auf Weihnachten zuging, wurde Wiederschein wieder zum Thema, denn Schneeganß schickte Mannhardt eine E-Mail, in der zu lesen stand, dass man den Gesuchten im Grenzgebiet zwischen Kolumbien, Venezuela und Ecuador entdeckt habe. Er stecke in einem Camp der Guerilleros und betätige sich dort als Koch.

»Ah, die Filiale des ›à la world-carte‹ in Südamerika«, sagte Heike.

»Na, Opa, war wohl doch nichts mit deiner Hypothese, dass alles nur ein posthum geschriebener Roman Fontanes ist, ein Remake, eine Paraphrase von ›Unterm Birnbaum‹. Nichts da mit Fontane führt Regie.«

»Doch«, sagte Mannhardt. »Doch. Nur hat er sich beim Ende diesmal für das Muster ›Quitt‹ entschieden. Der Protagonist dort heißt Lehnert Menz, bringt im preußischen Teil des Riesengebirges den Förster Opitz um, einen ähnlichen Kotzbrocken wie Schulz, und flüchtet in die USA, in die Indianergebiete von Kansas. Dort stirbt er dann denselben Tod, den Opitz gestorben ist.«

»Meinst du, sie haben da im kolumbianischen Urwald ein Sofakissen, mit dem sie Wiederschein ersticken können?«, fragte Orlando.

»Wo ein Wille ist, ist auch ein Sofakissen«, sagte Heike, als Mannhardt so schnell keine spritzige Antwort einfallen wollte. »Aber was sagt denn Fontane dazu?«

»Der sagt …« Da musste Mannhardt nicht lange nachdenken: »Je älter ich werde, je mehr sehe ich ein: laufen lassen. Wo nicht Amtspflicht das Gegenteil erfordert, ist das das allein Richtige.«

»Du hörst also auf, Wiederschein zu jagen?«

»Ja sicher, das ist ja nicht mehr mein Amt. Und außerdem … Noch einmal Fontane … Mit seinem wohl berühmtesten Spruch: ›Alles Alte, soweit es Anspruch darauf verdient, sollen wir lieben; aber für das Neue sollen wir eigentlich leben.‹«

»Und was soll das heißen?«, fragte Heike.

»Das soll heißen …« Nun kam es, zugleich altersweise und selbstironisch, aber auch bitter: »Das Alte, das ist mein Fontane, das liebe ich, aber für das Neue lebe ich, für eine Welt, in der liebenswürdige Windhunde und kosmopolitische Lebenskünstler wie die Wiederscheins die größten Sympathien genießen und die größten Chancen haben. Wer siegt, hat recht – und Wiederschein hat in unserem Spiel gesiegt, und auf das Prinzip ›Quitt‹ zu hoffen, ist Narretei.«

Orlando sollte das Schlusswort haben. »Na, wenn ich Richter wäre, dann wüsste ich nicht, welches die schlimmere Strafe ist: in Tegel im Gefängnis zu sitzen oder in Kolumbien im Urwald zu stecken, wo einen jeden Augenblick irgendeine giftige Schlange beißen oder eine Kugel der Regierungstruppen treffen kann.«

»Das ist doch für Wiederschein keine Strafe!«, rief Mannhardt. »Das ist das größte Glück für ihn.«

 

 

E N D E